Ich sehe mich im Klassenraum stehen. Ich sehe mich immer von oben rechts im Raum und beobachte mich von außen. Das hat nichts Furchterregendes oder Ungewöhnliches für mich. Es war immer so, ich musste nur erst erkennen, dass die anderen sich nicht so von außen beobachten.
Ich bin also immer über mir, leicht hinter mir und zwar rechts. Das muss so sein, sonst würde ich mich selbst ja nicht hören können, denn das linke Ohr ist taub. Ein taubes Ohr ist nicht schlimm, ich bin es gewohnt. Es ist schon lange so. Als Kind hatte ich öfter Ohrenschmerzen und irgendwann wurde dann einmal im Computertomograph ein Nebenbefund erstellt, dass ich Narben im Innenohr habe und deshalb der Schall im Gehirn nicht ankomme. Dann kann ich natürlich nicht verstehen, was jemand links neben mir sagt. Deshalb ist mein äußeres Ich immer rechts oben, hinten, damit ich alles gut verstehe, was es mir sagen will. Um falschen Vermutungen den Wind aus den Segeln zu nehmen sei der Vollständigkeit halber hier angemerkt, dass in dem Computerbild des Schädels nicht zu sehen war, dass ich verrückt sei. Es war aber ein Tumor auszuschließen und der wurde es. Mein Kopf ist, bis auf die Narben im Innenohr und der damit verbundenen einseitigen Taubheit, demzufolge ganz normal.
Ich sehe mich vor der Klasse stehend. Ich sehe desinteressierte Kinder. Schlimmer die Kinder ignorieren mich. Ich stehe in dem viel zu großen lang gezogenen rechteckigen Raum. Die Höhe ist fast vier Meter, ein riesiges Schallvolumen. Mein Ich sieht mir zu, wie ich beginne, mich zu ärgern, weil sich nicht automatische Ruhe einstellt. Das Ich ist, seitdem der große Fernseher in der rechten Ecke hinter mir hängt, etwas höher gerückt. Es schmunzelt über meinen immer gleichen Erregungsszustand. Ich rede mit mir: „Warum sind die Kids nicht ruhig, wenn ich als Lehrerin hier stehe und den Unterricht beginnen möchte?“ Es lacht vieldeutig. Ich sage laut und deutlich zu den Kindern: „Bitte öffnet die Fenster, packt aus und legt die Handys weg!“ Ich versuche es freundlich zu sagen. Meine Stimme ertönt fast kreischend, weil es so normal ist, dass keine Ruhe einkehrt und ich mich ärgere. Ich will nicht vor die Tür rennen und den Raum nochmal betreten müssen, um die über 120 Jahre alte Klassenraumtür hinter mir zuzuwerfen, damit mein Kommen bemerkt wird. Ich will nicht schreien. Ich spreche einzelne Schüler direkt an. Max: „Leg` dein Handy weg, sonst nehme ich es!“ Moritz: „Öffne doch bitte einmal die Fenster!“ Pippi: „Höre auf mit deiner Nachbarin zu reden!“- sie erwidern ohne den Gleichklang und die Dummheit ihrer Worte zu erfassen: „Warum immer ich?“ - Ich bin erstarrt. Ich frage mich, wie lange muss ich mir das gefallen lassen. Mir gefällt es nicht. Ich will nicht als Bittsteller des Staates gestellt sein vor unwillige Wesen, die den Sinn des Lernens nicht im Ansatz aus intrinsischer Motivation ziehen. Sie wollen zocken, ihre Ruhe, sich miteinander beschäftigen. Mein Ich sagt: „Du bist ein Störfaktor in ihrem Leben“ - ich bin noch entnervter. Ich rufe stimmschonend ein kurzes: „Ruhe!“ und ergänze dann: „Ich möchte beginnen!“ Oft geht es los und jemand fragt: „Kann ich die Fragen stellen?“ Ich bin erleichtert, ob der Einsichtsfähigkeit und der Beendigung der unguten Ausgangssituation. Mein Ich sagt von oben: „Es geht doch nichts über Rituale.“ Ich lächle mir zu und fahre nach den Eingangsfragen mit einem neuen Thema fort…Frohe Weihnachten 2021!