von Beate Wichmann
•
29 Okt., 2023
„Immer lustig und vergnügt, bis der Spatz ´nen Zentner wiegt!“ - sprach meine 94jährige Tante auf die Frage, wie es ihr denn gehe. Lachend und vergnüglich werde ich im Altersheim begrüßt und gehe deshalb gerne hin. Wenn ein Tag mal an der Arbeit weniger Erfreuliches zutage gebracht hat, dann werde ich von meiner lieben, alten Patentante Hildegard immer wieder aus dem Tief geholt. Ich frage pro forma: „Wie geht es dir?“ - die Antworten schwanken und gehen so: „Wie soll es mir gehen?“ „Was soll ich sagen, mir geht es doch gut. Ich habe doch hier alles.“ „Gut, mir tut nichts weh. Ich bin gesund.“ Die Wahrnehmung meinerseits ist: „Wie kann man so genügsam sein?“ Die Realität der Röntgenbilder und Laborbefunde spricht die Sprache der Krebsarten im fortgeschrittenen Stadium. Gut das es offensichtlich nicht ins Gehirn dringt, diese voyeuristische Diagnostik, diese Befunde. Es gibt offenbar Lebensrealitäten, die sich anders zusammensetzen. Die onkologische Medizin hat auch dafür einen Index gebildet. Wie schätzt der Mensch seine Fähigkeit ein alltägliche Aktivitäten durchzuführen - Karnofsky Index. Tante Hildegard kennt ihn nicht, den Karnofsky nicht und den Index nicht und den Willen der anderen Menschen ihren Status einzuschätzen. Sie nimmt das Leben hin, als Gott gegeben. Fröhlich will Sie ihr Leben sehen und erzählt dann, wie es ist, wenn Sie im Bett liegt, in ihrem kleinen Zimmerchen im neu gebauten Altersheim zwischen der Weimarer Klassik und dem ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald irgendwo im nirgendwo ohne große räumlichen Anbindung an die Welt. Sie denkt dann an die Menschen, die sie kennen gelernt hat. In 94 Jahren waren das so einige und sie lässt die Menschen dann vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Die Fotographien mit den wichtigsten Personen sind im Zimmer verteilt und helfen der schwächer werdenden Erinnerung auf die Sprünge. Eine gute Übung: Eltern - Großeltern - Geschwister - Ehemann - Cousinen, Nichten und Neffen und Leute in den Schulen, Gemeinden und in den Dörfern und Städten des Lebens. Sie sagt nicht wie Sie über die Leute genau nachdenkt, aber vielleicht habe ich nur nicht genau genug auf die Zwischentöne gehört. Ich nehme mir vor beim nächsten Mal besser darauf zu achten. Noch kann ich Tante Hildegard fragen. Sie erinnert nicht mehr alles, nicht mehr zeitlich genau, aber Sie ist der Blick in die eigene Vergangenheit. Sie ist ein Spiegelbild für mich und ich für Sie. Sie spürt wie wunderbar sich das anfühlt und spricht es aus: „Es ist schön in dein fröhliches Gesicht zu sehen!“ - Ich finde ihre laute und schrille Art so angenehm vertraut. Sie hat sich durchgesetzt im Leben. All ihre Macken und Eigenarten vor den Veränderungsbemühungen der anderen Menschen geschützt und beibehalten. Sie lebt im Herzen fröhlich, ihren treuen Glauben und singt und betet immer noch gern. Sie weiß und hofft, dass Sie eines Tages bei Gott ist und dass beruhigt sie. Sie sagt nichts davon, dass sie bald da hin will. Sie hat noch Lebensenergie. Es ist fast ein bißchen so, dass ihr langweilig ist. Das im Heim leben der letzten drei Jahre hat ihr Mühen des Alltags abgenommen und die überschüssige Energie ist frei geworden. Sie hat den Tod ihres geliebten Mannes Richard weggesteckt und neue Freundschaften geschlossen. Sie gibt immer den Ton an. Sie lässt sich nicht Kleinhalten. Nie. Sie sagt den unfreundlichen Mitmenschen laut und deutlich ihr Mitleid ins Gesicht, was diese Menschen wohl Schweres erlebt haben müssten, dass Sie nun so unfreundlich seien und denen, die unterhaltsam sein wollen ihre Kritik, dass ihr langweilig sei. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und denkt im Traum nicht daran angepasst zu sein. Wofür auch? Im Bad hängt am Spiegel ein Zettel: „Montags Abend Duschen“ - er ist ausgedruckt ohne weitere Erklärung. Es ist wohl eine Art des hilflosen Ausdrucks des Umgangs mit der Altersdemenz. Der Zettel sagt: „Wir wollen nicht jedes mal in Frage stellen, dass einmal pro Woche geduscht wird. Bitte nicht diskutieren, sondern hinsehen.“ Leider wohl nur der hilflose Versuch die pflegerischen Schwierigkeiten der Person mit dem riesigen Selbstbestimmungsdrang sagen zu können: „Sehen Sie hin, da ist der Zettel, das haben wir so ausgemacht.“ Ich bin dankbar für den Dienst, den die Schwestern da verrichten. Ich sehe es ist schwierig und ich bin froh über die Hilfen. Ich frage mich: „Wie geht es mir einmal? Werde ich auch so leben müssen und werde ich auch so dankbar damit umgehen können? Wer wird mein Betreuer sein und für mich die Abrechnungen erledigen?“ Sicher ist es noch lange hin, es kann auch ganz anders kommen. Aber je häufiger ich die Tante da sehe, so in der Lebenssituation denke ich: Das will mir Gott sagen. So kann es gehen! Gar nicht so schlecht, wenn man es annehmen kann.