Die tägliche Bewegung ist wichtig. Meine Hausärztin sagte kürzlich: „Sitzen ist das neue Rauchen!“ Ich nahm mir vor, die von vielen Seiten angeratenen 10.000 Schritte täglich zu gehen. In den Ferien gelingt es tadellos. In der Schulzeit im Homeschooling ist das schwieriger. Ich gehe, obwohl ich Effizienzfanatikerin bin, sinnlos zum Briefkasten oder zum Müll oder eine Runde um den Block, der nebenbei ganz hübsch ist, weil er an der via regia entlang geht und ich in wenigen Schritten bei der Erfurter Krämerbrücke bin. Das Schöne so nah steht aber dem Ziel des Schrittemachens entgegen. Nun nehme ich mir vor an die Arbeitsstätte zu gehen, damit ich Schritte bekomme. Die Schritte werden auf dem Smartphone mitgezählt. Irgendwie muss man ja zu seinen kleinen eigenen Alltagsstatistiken gelangen.
Jedenfalls gehe ich an die Arbeitsstätte, um nach dem Rechten zu sehen, weil Unterrichten dort, gerade zu gefährlich ist. Zu viele Viren, zu vielen potentielle Virenträger, zu wenig Platz. Der Unterricht läuft Online und ich suche mir ein Anliegen, warum ich da mal hingehe. Ich will einmal ins Postfach sehen. Das kann ich nur tagsüber, wenn ich Zugang zum Postfach habe. Ich marschiere los. Auf dem Spaziergang kreuzt der Landesrabbiner meinen Weg. Ich freue mich, ob des bloßen Umstandes, dass er so unbemerkt und unbeachtet des Weges gehen kann und das er da ist, hier in der Stadt in der einst Pogrome gegen Juden veranstaltet wurden, flächendeckend, allumfänglich - alle tot, schon 1349. Später dann die Shoa. Ich hänge meinen Gedanken nach und will beim Fröhlichen bleiben und lächele und denke: schön, dass er da ist der Alexander Nachama. Hoffentlich bleibt es so. Ich gehe weiter und lasse mich auf die Blüten ein und sauge den beginnenden Frühling auf. Ich will positiv denken.
In der Nähe der Schule merke ich, dass ich während der Hofpause ankomme. Ich sehe rauchende OberstufenschülerInnen. Ich grüße und gehe zum Haupteingang hinein. Das Sekretariat ist geschlossen. Ich bitte einen Kollegen mit Schlüsselgewalt mir zu öffnen. In höflicher und doch zugewandter Routine fragt er: „Wie geht es dir?“ Wissend, dass er keine langen Ausführungen über Krankheiten mag, antworte ich kurz: "Gut, aber meiner Mutter hat Krebs.“ Seine Erwiderung ist mehr ein bedauerndes Geräusch, als ein Wort, höchstens noch begleitet mit „Scheisse“ - aber mitfühlend ausgesprochen. Sein Umgang eben, ich verdenke es ihm nicht. Es ist eher der Überforderung und der zeitlichen Maschinerie der Schule geschuldet, deren Logik im 19. Jahrhundert entstand. Ich glaube da wurden Eltern von Lehrerinnen gar nicht über 80 und man brauchte das nicht so, damals ging man vielleicht eher morgens seinem Beruf in der Schule nach und nachmittags bereitete man sich für den nächsten Tag vor. Keine Ahnung wie damals KollegInnen miteinander kommunizierten. Heute läuft da viel übers Netz und neue Anwendungen, die alle Informationen weiter tragen. Alle? Wirklich alle? Was macht das denn aus, das miteinander Arbeiten? Das Kollegensein, das den Alltag teilen? Mitmenschlichkeit ist eine schöne Sache. Meist zeigt sich das in Krisen, den persönlichen und den gesellschaftlichen gleichermaßen. Man wird nach der Pandemie sehen müssen, wie man weiter miteinander zurecht kommt.
Jetzt muss man erstmal Schritte machen, damit man die Zeit gut überlebt, geistig und körperlich. Ich gehe weiter meines Weges und wen treffe ich? Einen alten Freund. Er ist Priester. Katholischer Priester. Eines Tages wird der Kardinal, wenigstens Bischof, da bin ich erfreut darüber. Es ist schön sich kurz und knapp und tiefgründig unterhalten zu können. Wenige Minuten reichen einzudringen in die Lebensrealität des Anderen, Mitgefühl zu äussern und sich auf später zu vertagen, ohne sich leer zu fühlen oder vertröstet. „Nach der Pandemie…“ hört sich in dem Gespräch hoffnungsvoll an, ehrlich, voller Ideen und Projekte und sinnvoll zu lebender Zukunft. Fröhlich ziehe ich meinen Weg weiter durch die Stadt.
Ich sehe eine Gruppe von Menschen, die nebeneinander in der Trommsdorffstraße stehen. Sie sind syrischer Herkunft. Sie haben Ramadan. Ich denke, dass sie zu nah beisammen stehen und ärgere mich über mich selbst, dass ich es nicht vermocht habe, einen fröhlichen Ramadan oder einen gesegneten Ramadan zu wünschen. Ich vertröste mich selbst, indem ich denke: Na wer weiß, was Sie geantwortet hätten und dann wäre womöglich meine schöne Stimmung kaputt gewesen. Ich vertreibe auch diesen dummen Gedanken und gehe weiter. Ich will fröhlich bleiben und Schritte machen. Ich habe einen Termin bei der Hausärztin. Ich muss mich beeilen, sonst komme ich zu spät.
Ich sehe hinterm Kaufhaus weiße Porzellanpuppen. Sie haben keine Gesichter und ich denke: schnell noch ein Bild machen und das kann ich als Symbolbild nehmen. Wegen der rechtlichen Fragen, muss es neutral sein. Was gibt es Neutraleres, als Schaufensterpuppen ohne Gesichter aber mit Geschlecht? Ich versuche von fünf, sechs Metern Abstand mit dem Smartphone zu fokussieren. Ich merke, dass das Smartphone so schlau nicht ist. Ich gehe näher heran. Ich nehme meine Objekte in den Blick, ohne die dabei Arbeitenden genügend zu beachten. Ich gehe einfach mit dem Blick auf den Kamerafokus so nah heran, dass es ein sinnvolles Symbolbild ergeben könnte, wenn ich abdrücke. Eine dort arbeitenden Frau, aus dem Augenwinkel nehme ich sie wahr, wird aggressiv. Ich sage laut und deutlich: „Ich finde die Puppen sehen ja so lustig aus, auf dem Haufen. Ich wollte nur davon ein Bild machen. Ich habe keine Menschen mit aufgenommen.“ Sie antwortet in der von mir wahrgenommenen Grundaggression, die unsere Gesellschaft gerade so prägt: „Das kann heutzutage gefährlich werden!“
Ich gehe schnell von dannen, habe ja einen Termin und ärgere mich für den Rest des Tages über diesen Stumpfsinn. Was soll denn daran gefährlich sein? Was bedeutet nur für Menschen Gefahr? Welcher Kategorienfehler im Denken? Sollen mich doch die Menschen dieser Welt verklagen. Im Angesicht der Pandemie, im Wahrnehmen des Leidens der Menschen und Mitmenschen, die gezeichnet von Krankheit oder Leid oder Arbeit sind. Was bedeutet denn in diesem alltäglichen Zusammenhang die Gefahr? Es wirkt so frustrierend und lächerlich und meine gute Laune von zuvor ist im Eimer. Mitmenschen sind manchmal anstrengend. Die mit Gesichtern weniger, als die Zeitgenossen ohne. Mir macht das Leiden.
Die 10.000 Schritte habe ich geschafft an dem Tag, aber was hat mich geschafft?!