Ziepzeriep

Beate Wichmann • 30. Mai 2021

Ziepzeriep

Es ist am frühen Morgen. Die Vögel zwitschern ihr morgendliches Konzert: „Ziep, ziep, piep, pip, piep, ziezeriepziepzeriep“ usw. Die Amseln, die Meisen, die Elstern und Tauben des Hinterhofs, selbst die Enten der Krämerbrücke und die Krähen sind lauter geworden. Im Hinterhof der Erfurter Innenstadt geben sie selbstbewusst ihr Stelldichein.
Ich liege in meinem Hochbett, neben mir schläft der Mann leise. Meine gefüllte Blase hat mich geweckt, die morgendliche Kühle des Mai 2021, der sich wie ein nicht enden wollender November anfühlt, zieht herein. Ich ziehe mir die wärmende Decke bis zur Nasenspitze und lausche dem Morgenkonzert. Eine regelrechte Konzertdarbietung spielt sich ab. Ich lausche und überlege, was für ein Tag ist. Mir fällt ein: „Sonntag“ und ich denke - gut so. Ich kann also noch dem Grande Finale der Amseln lauschen und dann auf die Toilette gehen. Die Spatzen piepsen dann so vor sich hin. 
Kein Mensch krakehlt nach dem Kneipenbesuch, kein Kind schreit, kein Kneiper räumt seine leeren Fässer zur Seite oder klopft die Schnitzel. Es ist eine selige Ruhe. In der Ferne immer wieder „krah, krah“, in der Nähe leise „ziep, ziep“ und zwischen drin „gurr, gurr.“
SARSCoV19 heisst das Coronavirus, was nun schon ein und einhalbes Jahr seine tödliche Schneise schlägt. Es bewegt sich über die Welt und richtet Unheil an. Menschen sind gestorben. Viele von Ihnen durch ihren Dienst am Menschen. Krankenschwestern und Krankenpfleger und Reinigungskräfte und Ärzte. Traurig, sehr traurig.
Und nun 89.014 Tote allein in Deutschland. Weltweit Millionen. Gestern allein 150 Menschen in Deutschland, einfach gestorben. Nicht einfach, aber einfach an einem Virus, was es vor zwei Jahren noch gar nicht gab. Jeder Einzelne verdient die Zuwendung und Erinnerung und die Trauernden das Mitgefühl. Mögen Sie in Frieden ruhen und den Trauernden Trost geschenkt werden.
„Gurr, gurr“…macht die Taube. „Zitscheriep“ die Spatzen und „Krah, krah“ das Rabengetier.
Und was scheint für die Mitmenschen nun wichtig? Wenn man in den letzten Tagen durch die Stadt geht, bekommt man den Eindruck, es gebe nichts Wichtigeres als die Kneipen wieder in Gang zu bringen. Aufgeregte Wirte fragen nach Regeln über die sozialen Netzwerke an und ob man auch wirklich kommen würde. Andere bauen einfach ihre Tische und Stühle im Außenbereich auf und wischen sie blank. Plötzlich kommen die Menschen aus ihren Wohnungen heraus. Der Mai ist verregnet, trotzdem sitzen sie da in ihren Decken und fressen und saufen, als wäre eine Hungersnot gewesen. Aus den geöffneten Fenstern der Kneipen dringen Brandgerüche, als hätten die Köche das Kochen verlernt. Am Schlimmsten stinkt mir die Rauchwolke des Franzosen an der Ecke, der die Ofenbedienung für das Flammkuchenbacken erst einem neuen Mitarbeiter nahe bringen muss. 
Der kleine Mann, der sich im Laufen die Pommes in den Mund stopft, der kommt mir bekannt vor. Ich hänge dem Gedanken nach. Dann fällt es mir ein. Das war doch der, der mal am Nachbartisch im Willy B. gegenüber des Hauptbahnhofs so gekonnt heraus komplementiert wurde. Die Kellnerin bat damals vor weiteren Essensbestellungen um Zwischenabrechnung. Es begann in seinem Rucksack zu wühlen. Sie daraufhin: „Haben Sie kein Geld?“ Er kleinlaut: „Nein“ Sie: „Aber das wussten sie doch vorher. Warum bestellen sie dann immer weiter?“ Er ohnehin etwas klein gewachsen, versank fast im Korbstuhl. Sie nun: „Entweder sie gehen sofort und kommen nie wieder oder ich rufe die Polizei.“ Er raffte hastig seine sieben Sachen zusammen und zog in Richtung Bahnhof davon. Er tat mir leid. So armselig, so verfressen, so ohne Maß und ohne liebevolle Begleitung, die ihn von solchen Dummheiten abhalten könnte. Schlanker ist er geworden in den drei Coronawellen von 2020/2021. Wahrscheinlich lebt er in einem Heim und bekommt dort gesundes Essen. Aber diese Freiheit, die ihn nun wieder heraustreibt, man kann ihm die Freiheit und Freude ansehen. Die Pommes werden reingeschoben, als bekäme er nie wieder welche. Er scheint zu denken: „Alles wieder offen, so viele Möglichkeiten!“
Ich denke, dass die Menschen doch jetzt etwas gelernt haben sollten, wenigsten kochen können Sie doch besser und ich verstehe auch den Drang nach dem Sozialen, aber teile ihn nicht. Ich finde die Ruhe war schön, schön ruhig, irgendwie menschenfreundlicher und die Ornithologen freut es sicher auch. Na wird schon weitergehen, ist ja die Erfahrung. „Krah, krah“ klingt es aus der Ferne und laut „Piep, piep“ direkt vorm Fenster. Mal sehen wie der Sommer wird, bevor er wieder viel zu schnell vorbei ist und ich mich frage: Woran werde ich einst sterben? 
von Beate Wichmann 14 Apr., 2024
Es ist eine gute alte Kultur, die meine drei Eltern miteinander pflegten. Das gegenseitige Beglückwünschen und Bedanken hatte einen festen Platz im Leben. Es wurde sich regelmäßig Zeit genommen für Briefe und Antworten auf Briefe und manchmal dabei gemeinsam auf einem Bogen Papier geschrieben. Hier schreibt meine Mutter Luise anlässlich Weihnachten 2012, indem Jahr als Adelheid ihre langjährige Lebensgefährtin Sabine verloren hatte über das erste Weihnachten ohne Sabine. Und auf einem gemeinsamen Papier dankt mein Vater ausführlich für die Glückwünsche zu seinem 80. Geburtstag. Er schrieb relativ selten Briefe, er mühte sich leserlich zu schreiben und berichtet über seine auf das Leben rückblickenden Gedanken und den Verlauf des Festes selbst. Ergänzend folgen in der Handschrift von Luise Weihnachtsgrüße. Dieser Brief ist aus dem Jahr 2016 - 2 Jahre vor dem Tod meines Vaters im Dezember 2018. Beate Krautter-Wichmann 14.4.2024
von Beate Wichmann 31 Dez., 2023
Adelheid Ostern 1975 in Badra Nun sollte das Kennenlernen endlich besiegelt werden. Der erste Besuch im Bild vor der Taufkirche festgehalten - ich sitze im Kinderwagen und Mechthild steht neben mir - Adelheid blickt etwas auf mich herab... Wer sich über Badra weiter informieren will: Stand 31.12.23 
von Beate Wichmann 31 Dez., 2023
Brief Luise an Frl. Krautter!
von Beate Wichmann 31 Dez., 2023
Jetzt zu dem Abkommen der Partnerkirchen. Es gab Sonderzuwendungen, die sich die freiwillige Person auszahlen lassen musste und dann ohne weitere Abrechnung ausgeben konnte. Ein solcher Aufforderungsbrief und Abwicklungsbrie aus 1983 ist hier zu sehen. Ist es nicht eine wunderbare Weise, dass man dies im guten Glauben machte? Wurde hier nicht ein wunderbares Exempel statuiert, das zeigt, dass die Buchhaltung nicht über den menschlichen Beziehungen stehen darf? Was macht es heute so schwierig solche kleinen Beträge im guten Glauben den Besitzer wechseln zu lassen, ohne ganze Verwaltungseinheiten damit zu beschäftigen? Warum soll immer Spitz auf Knopf abgerechnet werden, wenn es doch dann mehr der Sache schadet als nützt. Offensichtlich gab es Zeiten in den 1970er und 1980er Jahren, wo mit solchen Verfahren anders umgegangen wurde. Daran lohnt es sich anzuknüpfen, heute im hier und jetzt! Ich kann dem Württembergischen Diakonischen Werk nicht genug über diese großherzige Geste danken.
von Beate Wichmann 31 Dez., 2023
Mein Vater Martin Wichmann kam nach seinem Vikariat als junger Pfarrer in ein kleines Dorf am Fuße des Kyffhäusers. In Badra ließ er sich Mitte der 1960er Jahre nieder und hoffte auf das Nachkommen meiner Mutter, die er kurz zuvor in Eisenach kennengelernt hatte. Sie heirateten 1965 und richteten sich das Leben in dem Pfarrhaus in der kleinen Dorfgemeinde ein. Es lebten dort im Haus noch Leute, die woanders keine Unterkunft hatten, so dass alles sehr beengt und sehr einfach war. Das Nachbardorf Steinthalleben hatte mein Vater mit zu betreuen, theoretisch war auch der Kyffhäuser selbst im Gebiet der Gemeinde. „Barbarossa kam nie in den Gottesdienst“ pflegte mein Vater immer scherzhaft zu sagen. Hinter dem Eisernen Vorhang, mitten in der thüringischen Provinz ging es sehr einfach und nicht gerade kirchenfreundlich zu. Meine Eltern hatten jedoch keine hohen Ansprüche und lebten nach dem Grundsatz, dass man da seine Arbeit tut, wo man hingestellt wurde. Desto schöner war es, dass die Partnerlandeskirche in Baden-Württemberg sich etwas für die Thüringische Landeskirche ausgedacht hatte. Diese Art des aufopferungsvollen und entbehrungsreichen Lebens im Sinne der Nachfolge Jesu sollte unterstützt werden. Die Brüder im Osten hatten offensichtlich die Herzen derer im Westen nicht kalt gelassen. Zu frisch waren noch die Ereignisse rund um den Mauerbau und die Grenzsicherung aus dem Osten zwischen den beiden deutschen Staaten im Jahre 1961. Die Erinnerungen an das, was den Menschen nach dem 2. Weltkrieg als Aufbauleistung und Anpassung im Umdenken an demokratische oder sozialistische Prozesse leisten mussten, war im vollen Gange. Die Propagandamaschine dröhnte den Menschen zynisch in den Ohren: „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu bauen“ und „Den Sozialismus in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf.“ Eine ganze Generation von Erwachsenen kannte Menschen die hier oder dort lebten. Sie wollten sich gegenseitig unterstützen. Es gab neue Formen der Unterstützung in Partner- oder Studentengemeinden, aber den Erzählungen zufolge auch eine ganz besondere Unterstützung des Diakonischen Werkes Baden-Württemberg. Ganz genau lässt sich das für mich nicht mehr nachvollziehen, das die handelnden Akteure bereits gestorben sind, aber so ungefähr. Den Erzählungen zufolge, suchte das Diakonische Werk in Württemberg Freiwillige, die bereit waren jährlich eine feste Summe abzurufen und das Geld in aus den Familien gewünschte Waren umzutauschen. Diese Waren wurden dann als Pakete in den Osten an junge Pfarrer gesandt. Mein Vater Martin bekam die Patenschaft zu Irmgard Krautter aus Schorndorf. Sie besuchte die junge Familie in Badra und sandte jährlich mehrfach Pakete mit den gewünschten Dingen. Ein kleiner Einblick findet sich in einem Schreibheft, wo die Waren mit Preisen vermerkt wurden. Es wurden meist Mangelgegenstände gesandt wie Kaffee, Kakao, Kleidung für Kinder oder Bastel- und Backwaren. Im Laufe der Jahre wurde eine richtige Beziehung daraus. Die Dankesbriefe wechselten sich mit Paketen ab und das beschwerliche Leben wurde dadurch für meine Eltern und uns als Familie etwas erleichtert. Meine Eltern bekamen drei Kinder und beim dritten Kind, fragten Sie die Tochter der „Tante Irmgard“ ob Sie die Taufpatenschaft übernehmen wolle. Dazu in im folgenden Beitrag dann mehr. Jetzt erst zu dem Abkommen der Partnerkirchen. Es gab Sonderzuwendungen, die sich die freiwillige Person auszahlen lassen musste und dann ohne weitere Abrechnung ausgeben konnte. Ein solcher Aufforderungsbrief aus 1983 ist hier zu sehen. Ist es nicht eine wunderbare Weise, dass man dies im guten Glauben machte? Wurde hier nicht ein wunderbares Exempel statuiert, das zeigt, dass die Buchhaltung nicht über den menschlichen Beziehungen stehen darf? Was macht es heute so schwierig solche kleinen Beträge im guten Glauben den Besitzer wechseln zu lassen, ohne ganze Verwaltungseinheiten damit zu beschäftigen? Warum soll immer Spitz auf Knopf abgerechnet werden, wenn es doch dann mehr der Sache schadet als nützt. Offensichtlich gab es Zeiten in den 1970er und 1980er Jahren, wo mit solchen Verfahren anders umgegangen wurde. Daran lohnt es sich anzuknüpfen, heute im hier und jetzt! Ich kann dem Württembergischen Diakonischen Werk nicht genug über diese großherzige Geste danken.
von Beate Wichmann 28 Dez., 2023
Ein Lebenszeugnis von zwei Müttern - für eine kurze Zeit - beide damit sehr glücklich! Ich versuche das Leben zu verstehen und manchmal ergibt es erst in der Rückschau einen Sinn. Adelheid hat uns als Familie Wichmann unterstützt, für mich wurde es zu einer lebenslangen Begleitung. Auf die Details werde ich hier nach und nach eingehen. In einem Hefter "Wichmanns DDR" finden sich Zeitzeugnisse, die ich aufgreifen, transkribieren und kommentieren möchte. Einerseits um das eigene Leben, aber auch das der Anderen zu verstehen. Die Anderen - die Eltern und die Patentante und Adoptivmutter - die sich nach und nach ganz unterschiedlich davon machen und doch so viel hinterlassen, was mir nachdenkenswert erscheint. 28. Dezember 2023
von Beate Wichmann 29 Okt., 2023
„Immer lustig und vergnügt, bis der Spatz ´nen Zentner wiegt!“ - sprach meine 94jährige Tante auf die Frage, wie es ihr denn gehe. Lachend und vergnüglich werde ich im Altersheim begrüßt und gehe deshalb gerne hin. Wenn ein Tag mal an der Arbeit weniger Erfreuliches zutage gebracht hat, dann werde ich von meiner lieben, alten Patentante Hildegard immer wieder aus dem Tief geholt. Ich frage pro forma: „Wie geht es dir?“ - die Antworten schwanken und gehen so: „Wie soll es mir gehen?“ „Was soll ich sagen, mir geht es doch gut. Ich habe doch hier alles.“ „Gut, mir tut nichts weh. Ich bin gesund.“ Die Wahrnehmung meinerseits ist: „Wie kann man so genügsam sein?“ Die Realität der Röntgenbilder und Laborbefunde spricht die Sprache der Krebsarten im fortgeschrittenen Stadium. Gut das es offensichtlich nicht ins Gehirn dringt, diese voyeuristische Diagnostik, diese Befunde. Es gibt offenbar Lebensrealitäten, die sich anders zusammensetzen. Die onkologische Medizin hat auch dafür einen Index gebildet. Wie schätzt der Mensch seine Fähigkeit ein alltägliche Aktivitäten durchzuführen - Karnofsky Index. Tante Hildegard kennt ihn nicht, den Karnofsky nicht und den Index nicht und den Willen der anderen Menschen ihren Status einzuschätzen. Sie nimmt das Leben hin, als Gott gegeben. Fröhlich will Sie ihr Leben sehen und erzählt dann, wie es ist, wenn Sie im Bett liegt, in ihrem kleinen Zimmerchen im neu gebauten Altersheim zwischen der Weimarer Klassik und dem ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald irgendwo im nirgendwo ohne große räumlichen Anbindung an die Welt. Sie denkt dann an die Menschen, die sie kennen gelernt hat. In 94 Jahren waren das so einige und sie lässt die Menschen dann vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Die Fotographien mit den wichtigsten Personen sind im Zimmer verteilt und helfen der schwächer werdenden Erinnerung auf die Sprünge. Eine gute Übung: Eltern - Großeltern - Geschwister - Ehemann - Cousinen, Nichten und Neffen und Leute in den Schulen, Gemeinden und in den Dörfern und Städten des Lebens. Sie sagt nicht wie Sie über die Leute genau nachdenkt, aber vielleicht habe ich nur nicht genau genug auf die Zwischentöne gehört. Ich nehme mir vor beim nächsten Mal besser darauf zu achten. Noch kann ich Tante Hildegard fragen. Sie erinnert nicht mehr alles, nicht mehr zeitlich genau, aber Sie ist der Blick in die eigene Vergangenheit. Sie ist ein Spiegelbild für mich und ich für Sie. Sie spürt wie wunderbar sich das anfühlt und spricht es aus: „Es ist schön in dein fröhliches Gesicht zu sehen!“ - Ich finde ihre laute und schrille Art so angenehm vertraut. Sie hat sich durchgesetzt im Leben. All ihre Macken und Eigenarten vor den Veränderungsbemühungen der anderen Menschen geschützt und beibehalten. Sie lebt im Herzen fröhlich, ihren treuen Glauben und singt und betet immer noch gern. Sie weiß und hofft, dass Sie eines Tages bei Gott ist und dass beruhigt sie. Sie sagt nichts davon, dass sie bald da hin will. Sie hat noch Lebensenergie. Es ist fast ein bißchen so, dass ihr langweilig ist. Das im Heim leben der letzten drei Jahre hat ihr Mühen des Alltags abgenommen und die überschüssige Energie ist frei geworden. Sie hat den Tod ihres geliebten Mannes Richard weggesteckt und neue Freundschaften geschlossen. Sie gibt immer den Ton an. Sie lässt sich nicht Kleinhalten. Nie. Sie sagt den unfreundlichen Mitmenschen laut und deutlich ihr Mitleid ins Gesicht, was diese Menschen wohl Schweres erlebt haben müssten, dass Sie nun so unfreundlich seien und denen, die unterhaltsam sein wollen ihre Kritik, dass ihr langweilig sei. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und denkt im Traum nicht daran angepasst zu sein. Wofür auch? Im Bad hängt am Spiegel ein Zettel: „Montags Abend Duschen“ - er ist ausgedruckt ohne weitere Erklärung. Es ist wohl eine Art des hilflosen Ausdrucks des Umgangs mit der Altersdemenz. Der Zettel sagt: „Wir wollen nicht jedes mal in Frage stellen, dass einmal pro Woche geduscht wird. Bitte nicht diskutieren, sondern hinsehen.“ Leider wohl nur der hilflose Versuch die pflegerischen Schwierigkeiten der Person mit dem riesigen Selbstbestimmungsdrang sagen zu können: „Sehen Sie hin, da ist der Zettel, das haben wir so ausgemacht.“ Ich bin dankbar für den Dienst, den die Schwestern da verrichten. Ich sehe es ist schwierig und ich bin froh über die Hilfen. Ich frage mich: „Wie geht es mir einmal? Werde ich auch so leben müssen und werde ich auch so dankbar damit umgehen können? Wer wird mein Betreuer sein und für mich die Abrechnungen erledigen?“ Sicher ist es noch lange hin, es kann auch ganz anders kommen. Aber je häufiger ich die Tante da sehe, so in der Lebenssituation denke ich: Das will mir Gott sagen. So kann es gehen! Gar nicht so schlecht, wenn man es annehmen kann.
von Beate Wichmann 21 Jan., 2023
I ch habe den Arbeitsort geändert. Ich fahre nun täglich nach Weimar. Die Eisenbahn fährt im Viertelstündlichen Takt, die Arbeit gefällt mir. Fröhlich gelaunt stehe ich wieder leichtfüßig auf. Ich gehe noch im Dunkeln des Winters zum Bahnhof, fahre die fünfzehn Minuten Zeitungslesend nach Weimar. Dann verlasse ich das Bahnhofsgebäude und denke immer: hinter mir das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald und vor mir das Hotel Kaiserin Augusta. Vor meinem inneren Auge sehe ich Stephané Hessel durch die Hotelhalle auf mich zukommen. Ein unvergessliches Erlebnis diesen sanften Menschen kennengelernt zu haben. Er, der so eine anregungsreiche Kindheit hatte und dann dann durch sein Wirken in der französischen Resistance in die Fänge der Nazis geriet. In Buchenwald hatte er durch geschicktes Agieren überleben können. Er hat ohne Groll noch lange in seinem Leben jungen Menschen davon berichtet, sanft und leise in der Stimme, aber umso deutlicher in den gut gewählten Worten. Er lebte den Schwur von Buchenwald und er steckte mich an mit seinem Optimismus. Ich gehe weiter die Carl-August-Allee hinab. Schnellen Schrittes, denn ich will mein Tagwerk beginnen. Ich sehe die überlebensgroßen Fotografien der Überlebenden am Ernst- Thälmann Platz und weiter unten am ehemaligen Gauforum gegenüber des Landesverwaltungsamtes sehe ich das Bild von Eva Pusztai, einer anderen für mich beeindruckenden Überlebenden vom KZ Auschwitz. Als Nächstes komme ich zum Bauhausmuseum und freue mich über das Schild zur Platzbenennung: „Stephané-Hessel-Platz“ - wie schön, dass es nach den anfänglichen Wiederständen doch noch geklappt hat. Wie schön hier in so exponierter Lage diesen Namen zu sehen. Wie schön, dass Stephané Hessel überlebt hat und nach dem Leiden so viel in seinem Leben erreichen konnte. Ich erfreue mich an seiner Mitarbeit der UN Menschenrechtscharta. Ich weiß, dass meine neue Arbeit die konsequente Fortführung dieser begonnenen Arbeit nach dem 2. Weltkrieg bedeutet. Dieses in Worte gegossene Gesetzeswerk, diese Selbstverpflichtung nach dem völligen Versagen der Mitmenschlichkeit. Wie viele haben sich nicht zuständig gefühlt? Wie viele haben weggesehen? Wieviele haben nur ihre Aufgabe gemacht? Ich versuche etwas mehr Gerechtigkeit für Menschen zu schaffen, die früheren blinde Flecken zu beseitigen helfen. Jedes Kind soll mit anderen zusammen lernen können. Jede und jeder sein Recht auf Bildung mit anderen zusammen wahrnehmen können. Keine und keiner soll in Ecken oder gar Sonderschulen abgedrängt werden. Eine Mammutaufgabe - eine gesellschaftliche Aufgabe! Alle sollen in ihrer Unterschiedlichkeit sein können, mehr noch ihre Fähigkeiten entfalten können. Ein Teil der Gesellschaft sein. Es ist das komplette Gegenteil von dem, was da oben auf dem Berg geschah, es ist nicht meine Schuld, aber ich spüre die Verantwortung, immer wieder. Jeden Tag! Ich gehe ins Amt. Jetzt um den 27. Januar herum denke ich an die Befreiung Auschwitz` 1945 - ich denke daran, wieviele es nicht wissen. Sie sind mit sich beschäftigt, sie haben Sorgen und Ängste. Aber ich spüre es. Soll ich es sagen? Soll ich die Menschen auffordern nachzudenken, soll ich mir diese zum Feind machen? Mache ich mir sie zum Feind? Wollen Menschen vielleicht aufgefordert werden? Sind vielleicht viele nur sprach- und hilflos, weil so viele nichts sagen? Ach, was soll schon passieren? Es ist doch unser immer wiederholtes Bekenntnis: „Nie wieder!“ Ziehen wir keinen Schlussstrich! Tun wir nicht so, wie die Verwalterin, die nur Sekretärin gewesen sein will. Nehmen wir die Verantwortung wahr. Nehmen wir wahr, dass HJ nicht immer Halbjahr hieß und SA nicht immer Sozialamt! Seien wir im Alltag sensibel. Tun wir, was wir tun können, bauen wir mit, an dem digitalen Denkmal: #everynamecounts - Bad Arolsen Archives Ein Aufruf sich zu beteiligen und dem „muss doch jetzt mal gut sein Denken“ zu entgehen. Der eigenen Bequemlichkeit ein ganz kleines Zeichen gegenüber zu setzen. Die Namen der Häftlingskarten von vielen Orten der Welt - von dem einen Ort zusammenzufügen. Auch hier in Weimar - in diesem Jahr 2023, wohl wissend, dass bald Wahlen sind und wir nicht nichts getan haben wollen. Schauen wir zurück und nach vorn, ohne Schlussstrich! Wir haben es versprochen… Weiterführende Links: Hinweis zu Stephané Hessel: https://de.wikipedia.org/wiki/St%C3%A9phane_Hessel Zur Sekretärin / Stenotypistin von Stutthof https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/bewaehrung-fuer-ehemalige-sekretaerin-kz-101.html Zur Aktion 30.000 Namen in einer Woche von Häftlingskarten aus dem ehemaligen KZ Stutthof als gemeinsames Denkmal zu digitalisieren: https://everynamecounts.arolsen-archives.org/
von Beate Wichmann 24 Dez., 2021
Ich und Ich zu Stundenbeginn Ich sehe mich im Klassenraum stehen. Ich sehe mich immer von oben rechts im Raum und beobachte mich von außen. Das hat nichts Furchterregendes oder Ungewöhnliches für mich. Es war immer so, ich musste nur erst erkennen, dass die anderen sich nicht so von außen beobachten. Ich bin also immer über mir, leicht hinter mir und zwar rechts. Das muss so sein, sonst würde ich mich selbst ja nicht hören können, denn das linke Ohr ist taub. Ein taubes Ohr ist nicht schlimm, ich bin es gewohnt. Es ist schon lange so. Als Kind hatte ich öfter Ohrenschmerzen und irgendwann wurde dann einmal im Computertomograph ein Nebenbefund erstellt, dass ich Narben im Innenohr habe und deshalb der Schall im Gehirn nicht ankomme. Dann kann ich natürlich nicht verstehen, was jemand links neben mir sagt. Deshalb ist mein äußeres Ich immer rechts oben, hinten, damit ich alles gut verstehe, was es mir sagen will. Um falschen Vermutungen den Wind aus den Segeln zu nehmen sei der Vollständigkeit halber hier angemerkt, dass in dem Computerbild des Schädels nicht zu sehen war, dass ich verrückt sei. Es war aber ein Tumor auszuschließen und der wurde es. Mein Kopf ist, bis auf die Narben im Innenohr und der damit verbundenen einseitigen Taubheit, demzufolge ganz normal. Ich sehe mich vor der Klasse stehend. Ich sehe desinteressierte Kinder. Schlimmer die Kinder ignorieren mich. Ich stehe in dem viel zu großen lang gezogenen rechteckigen Raum. Die Höhe ist fast vier Meter, ein riesiges Schallvolumen. Mein Ich sieht mir zu, wie ich beginne, mich zu ärgern, weil sich nicht automatische Ruhe einstellt. Das Ich ist, seitdem der große Fernseher in der rechten Ecke hinter mir hängt, etwas höher gerückt. Es schmunzelt über meinen immer gleichen Erregungsszustand. Ich rede mit mir: „Warum sind die Kids nicht ruhig, wenn ich als Lehrerin hier stehe und den Unterricht beginnen möchte?“ Es lacht vieldeutig. Ich sage laut und deutlich zu den Kindern: „Bitte öffnet die Fenster, packt aus und legt die Handys weg!“ Ich versuche es freundlich zu sagen. Meine Stimme ertönt fast kreischend, weil es so normal ist, dass keine Ruhe einkehrt und ich mich ärgere. Ich will nicht vor die Tür rennen und den Raum nochmal betreten müssen, um die über 120 Jahre alte Klassenraumtür hinter mir zuzuwerfen, damit mein Kommen bemerkt wird. Ich will nicht schreien. Ich spreche einzelne Schüler direkt an. Max: „Leg` dein Handy weg, sonst nehme ich es!“ Moritz: „Öffne doch bitte einmal die Fenster!“ Pippi: „Höre auf mit deiner Nachbarin zu reden!“- sie erwidern ohne den Gleichklang und die Dummheit ihrer Worte zu erfassen: „Warum immer ich?“ - Ich bin erstarrt. Ich frage mich, wie lange muss ich mir das gefallen lassen. Mir gefällt es nicht. Ich will nicht als Bittsteller des Staates gestellt sein vor unwillige Wesen, die den Sinn des Lernens nicht im Ansatz aus intrinsischer Motivation ziehen. Sie wollen zocken, ihre Ruhe, sich miteinander beschäftigen. Mein Ich sagt: „Du bist ein Störfaktor in ihrem Leben“ - ich bin noch entnervter. Ich rufe stimmschonend ein kurzes: „Ruhe!“ und ergänze dann: „Ich möchte beginnen!“ Oft geht es los und jemand fragt: „Kann ich die Fragen stellen?“ Ich bin erleichtert, ob der Einsichtsfähigkeit und der Beendigung der unguten Ausgangssituation. Mein Ich sagt von oben: „Es geht doch nichts über Rituale.“ Ich lächle mir zu und fahre nach den Eingangsfragen mit einem neuen Thema fort…Frohe Weihnachten 2021!
von Beate Wichmann 29 Nov., 2021
Lasst doch nicht die Schranken - Schranken Bringen uns all hier ins Wanken Sondern nehmt beherzt jetzt an Dass man doch was machen kann! Ein Gesetz muss her nun balde Damit nicht nur lebt im Walde Eine Oma in der Hütte Sondern hier und dort - als Bitte? Impfen ist für alle möglich Und das ist nicht ganz so tödlich wie so mancher angenommen Der auf „Intensiv“ gekommen. Lasst uns unser Weihnachtsfest Sehen als das was es i (e) st Eine Feier an dem Nest Jesus sah der Welten Rest! Damals war es auch schon bitter Menschen sandten andre weg Ganz egal ob Sturm, Gewitter Mussten sie doch auf den Weg! Zäune hier und dort Wollen auch mal hin, mal fort Doch wir wollen alle sein: Gesund nur und nie ganz allein. Ach was sind der Welten Klagen: Klein, wenn man gesehen viel Christian, Karl und Lothar sagen: Nur zusammen geht’s zum Ziel! 29.11.21 Beate Wichmann
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