Es ist am frühen Morgen. Die Vögel zwitschern ihr morgendliches Konzert: „Ziep, ziep, piep, pip, piep, ziezeriepziepzeriep“ usw. Die Amseln, die Meisen, die Elstern und Tauben des Hinterhofs, selbst die Enten der Krämerbrücke und die Krähen sind lauter geworden. Im Hinterhof der Erfurter Innenstadt geben sie selbstbewusst ihr Stelldichein.
Ich liege in meinem Hochbett, neben mir schläft der Mann leise. Meine gefüllte Blase hat mich geweckt, die morgendliche Kühle des Mai 2021, der sich wie ein nicht enden wollender November anfühlt, zieht herein. Ich ziehe mir die wärmende Decke bis zur Nasenspitze und lausche dem Morgenkonzert. Eine regelrechte Konzertdarbietung spielt sich ab. Ich lausche und überlege, was für ein Tag ist. Mir fällt ein: „Sonntag“ und ich denke - gut so. Ich kann also noch dem Grande Finale der Amseln lauschen und dann auf die Toilette gehen. Die Spatzen piepsen dann so vor sich hin.
Kein Mensch krakehlt nach dem Kneipenbesuch, kein Kind schreit, kein Kneiper räumt seine leeren Fässer zur Seite oder klopft die Schnitzel. Es ist eine selige Ruhe. In der Ferne immer wieder „krah, krah“, in der Nähe leise „ziep, ziep“ und zwischen drin „gurr, gurr.“
SARSCoV19 heisst das Coronavirus, was nun schon ein und einhalbes Jahr seine tödliche Schneise schlägt. Es bewegt sich über die Welt und richtet Unheil an. Menschen sind gestorben. Viele von Ihnen durch ihren Dienst am Menschen. Krankenschwestern und Krankenpfleger und Reinigungskräfte und Ärzte. Traurig, sehr traurig.
Und nun 89.014 Tote allein in Deutschland. Weltweit Millionen. Gestern allein 150 Menschen in Deutschland, einfach gestorben. Nicht einfach, aber einfach an einem Virus, was es vor zwei Jahren noch gar nicht gab. Jeder Einzelne verdient die Zuwendung und Erinnerung und die Trauernden das Mitgefühl. Mögen Sie in Frieden ruhen und den Trauernden Trost geschenkt werden.
„Gurr, gurr“…macht die Taube. „Zitscheriep“ die Spatzen und „Krah, krah“ das Rabengetier.
Und was scheint für die Mitmenschen nun wichtig? Wenn man in den letzten Tagen durch die Stadt geht, bekommt man den Eindruck, es gebe nichts Wichtigeres als die Kneipen wieder in Gang zu bringen. Aufgeregte Wirte fragen nach Regeln über die sozialen Netzwerke an und ob man auch wirklich kommen würde. Andere bauen einfach ihre Tische und Stühle im Außenbereich auf und wischen sie blank. Plötzlich kommen die Menschen aus ihren Wohnungen heraus. Der Mai ist verregnet, trotzdem sitzen sie da in ihren Decken und fressen und saufen, als wäre eine Hungersnot gewesen. Aus den geöffneten Fenstern der Kneipen dringen Brandgerüche, als hätten die Köche das Kochen verlernt. Am Schlimmsten stinkt mir die Rauchwolke des Franzosen an der Ecke, der die Ofenbedienung für das Flammkuchenbacken erst einem neuen Mitarbeiter nahe bringen muss.
Der kleine Mann, der sich im Laufen die Pommes in den Mund stopft, der kommt mir bekannt vor. Ich hänge dem Gedanken nach. Dann fällt es mir ein. Das war doch der, der mal am Nachbartisch im Willy B. gegenüber des Hauptbahnhofs so gekonnt heraus komplementiert wurde. Die Kellnerin bat damals vor weiteren Essensbestellungen um Zwischenabrechnung. Es begann in seinem Rucksack zu wühlen. Sie daraufhin: „Haben Sie kein Geld?“ Er kleinlaut: „Nein“ Sie: „Aber das wussten sie doch vorher. Warum bestellen sie dann immer weiter?“ Er ohnehin etwas klein gewachsen, versank fast im Korbstuhl. Sie nun: „Entweder sie gehen sofort und kommen nie wieder oder ich rufe die Polizei.“ Er raffte hastig seine sieben Sachen zusammen und zog in Richtung Bahnhof davon. Er tat mir leid. So armselig, so verfressen, so ohne Maß und ohne liebevolle Begleitung, die ihn von solchen Dummheiten abhalten könnte. Schlanker ist er geworden in den drei Coronawellen von 2020/2021. Wahrscheinlich lebt er in einem Heim und bekommt dort gesundes Essen. Aber diese Freiheit, die ihn nun wieder heraustreibt, man kann ihm die Freiheit und Freude ansehen. Die Pommes werden reingeschoben, als bekäme er nie wieder welche. Er scheint zu denken: „Alles wieder offen, so viele Möglichkeiten!“
Ich denke, dass die Menschen doch jetzt etwas gelernt haben sollten, wenigsten kochen können Sie doch besser und ich verstehe auch den Drang nach dem Sozialen, aber teile ihn nicht. Ich finde die Ruhe war schön, schön ruhig, irgendwie menschenfreundlicher und die Ornithologen freut es sicher auch. Na wird schon weitergehen, ist ja die Erfahrung. „Krah, krah“ klingt es aus der Ferne und laut „Piep, piep“ direkt vorm Fenster. Mal sehen wie der Sommer wird, bevor er wieder viel zu schnell vorbei ist und ich mich frage: Woran werde ich einst sterben?